Naturwissenschaft, Ingenieurwesen und Design Thinking nutzen verschiedene Ansätze zur Erkenntnisgewinnung oder Problemlösung. Ich bin der Frage nachgegangen, was die einzelnen Arbeitsweisen ausmacht und was die verschiedenen Disziplinen voneinander lernen können. Für mich ergänzen sich die verschiedenen Arbeitsweisen sehr gut und jede Disziplin hat grosse Vorteile aber auch blinde Flecken.

Dies soll kein objektiver oder vollständiger Vergleich sein. Ich habe Ingenieur studiert und 9 Jahre in der Industrie gearbeitet. Dabei kam ich immer auch mit naturwissenschaftlicher Arbeitsweise in Kontakt. Heute arbeite ich eher mit Design Thinking, um Probleme zu lösen und dieser Artikel widerspiegelt meine subjektive Erfahrung. Ich werde zur besseren Verständlichkeit auch Vergleiche zur Planung einer Bergtour ziehen.

Inhaltsverzeichnis

Die Arbeitsweisen im Design Thinking, Ingenieurwesen und Naturwissenschaften

Design Thinking ist eine Methode zur Problemlösung, welche sehr umfassend auf den Nutzer fokussiert. Das Vorgehen in klar definierten Schritten startet demnach auch damit, das Problem aus Sicht des Nutzers genau zu verstehen und die Problemstellung danach weit genug zu fassen, um eine optimale und möglichst einfache Lösung zu ermöglichen. Dabei wird auf eine gesamtheitliche Sicht Wert gelegt. Ideen zur Lösung des Problems werden ganz bewusst erst später gesammelt und beurteilt. Weiter gehört es auch zur Methode, die Lösung möglichst früh mit dem Nutzer zu testen und iterativ zu verbessern.

Ingenieure möchten meist eine Lösung für ein komplexes technisches Problem erarbeiten. Die genaue Art der Lösung ist normalerweise sekundär und der Weg dorthin ist meist recht frei, das heisst er folgt nicht einer starren Methode. Die Komplexität des Problems und die Zusammenhänge müssen normalerweise nur soweit verstanden werden, als dass sie für die Lösung wichtig sind. Es geht in den meisten Ingenieurdisziplinen nicht darum, jedes Detail des Systems zu verstehen. Es reicht, wenn die Reaktion/Funktion eines Systems verstanden wird. Zu komplexe Systeme werden vereinfacht, indem Annahmen getroffen werden oder Einflüsse vernachlässigt werden. Komplizierte Systeme werden in mehrere Teile zerlegt, welche einzeln bearbeitet werden können.

Die Arbeitsweise in den (westlichen) Naturwissenschaften ist noch einmal anders und folgt ebenfalls wieder strikteren Regeln. Allgemein ist das Ziel, neues Wissen zu generieren und ein Objekt gegebenenfalls sehr detailliert zu erforschen. Entsprechend muss es normalerweise zerlegt werden. Funktionsweise und Zusammenhänge sollen genau verstanden werden. Gearbeitet wird, indem eine Hypothese aufgestellt und danach getestet wird oder indem ein Muster gesucht wird. Je nachdem wird dieses Wissen später in praktischen Anwendungen weiterentwickelt.

Gemeinsamkeiten

Allen drei Arbeitsweisen gemeinsam ist das systematische, analytische Vorgehen in Schritten. Das genaue Vorgehen ist jedoch unterschiedlich genau definiert. Neben diesem strukturierten Vorgehen sind auch weitere Fähigkeiten wie Kreativität, Erkennen von Zusammenhängen oder gute Kommunikation nötig.

Es geht darum, am Ende eine Lösung umzusetzen.

Und sowohl im Design Thinking als auch bei Ingenieuren geht es darum, am Ende eine Lösung umgesetzt zu haben. Das heisst ein Projekt startet von der Analyse und dauert auf jeden Fall bis zur abgeschlossenen Umsetzung oder Optimierung. Teil dieses Prozesses ist in beiden Fällen deshalb auch die Lösung zu planen, visualisieren, zu experimentieren und zu iterieren.

Ingenieure, Wissenschaften und Design Thinking können etwas voneinander lernen

Unterschiede in der Arbeitsweise

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen den verschiedenen Herangehensweisen ist die Wahl der Systemgrenzen. Ingenieure setzen die Systemgrenzen gerne so eng als möglich und vernachlässigen gewisse Einflüsse auch einmal grosszügig, um die Anzahl der Variablen zu reduzieren. Im Design Thinking wird die Grenze eher so weit als nötig gefasst, um auch neue bisher nicht berücksichtigte Lösungen zu finden bzw. zu ermöglichen. Denn die Formulierung der Aufgabe definiert den Raum der möglichen Lösungen. Vielleicht fragt mich am Montag ein Kollege, ob ich eine Klettertour für das Wochenende organisieren könnte. Genaugenommen möchte der Kollege aber primär ein schönes Erlebnis in der Natur. Mit diesen zwei unterschiedlichen Aufgaben ergeben sich ganz andere Optionen – besonders im Falle von regnerischem Wetter. Die Definition der Aufgabenstellung und gegebenenfalls sogar die Erweiterung der Aufgabe in einem frühen Projektstadium kann ganz neue Lösungen ermöglichen. Für die Nutzer sind diese entweder besser oder einfacher. Und zu Beginn des Projektes ist dieser Perspektivenwechsel auch ohne grossen Aufwand möglich. Den Blick für neue Arten von Lösungen zu öffnen kann jedoch auch bedeuten, dass man im Einzelfall mit den eigenen Fähigkeiten und dem eigenen Wissen nichts zur Lösung beitragen kann, sondern dass andere Fachrichtungen gefragt sind. Eine Kanutour am Wochenende kann ich als passionierter Kletterer vielleicht dann nicht mehr leiten.

Wenn man einen Hammer in der Hand hält, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.

Ein zweiter Unterschied betrifft den Blick auf das Problem oder die Aufgabe. Beim Design Thinking wird zu Beginn explizit Information zum Problem aus Sicht des Nutzers gesammelt und ein Überblick erstellt. Dann hat man auf jeden Fall schon zwei Perspektiven auf das gleiche Problem: diejenige des potentiellen Nutzers und die Eigene. Wenn mehrere Personen befragt werden, ergeben sich mehr Perspektiven und ein gesamtheitliches Bild. In den ganz verschiedenen Ingenieurdisziplinen habe ich oft erlebt, dass der Analyse des Problems und der Einflussfaktoren zu Beginn zu wenig Beachtung geschenkt wurde oder dass nicht ausreichend verschiedene Perspektiven eingenommen wurden. Vielleicht liegt es auch in der praktischen und lösungsorientierten Art vieler Ingenieure und Ingenieurinnen, sofort mit der Problemlösung starten zu wollen. Man weiss, dass später noch genügend Aufgaben warten, da will man am Anfang keine Zeit verschwenden. Bei den Ingenieurproblemen kommt erschwerend hinzu, dass die Systeme normalerweise komplex sind und ganz spezifische Fachkenntnisse verlangen. Bei Experten ist es leider häufig so, dass wenn man in der Hand einen Hammer hält, jedes Problem wie ein Nagel aussieht. Die Gefahr dabei ist, dass man die erstbeste Lösung verfolgt (jump to the conclusion). Was am Anfang vergessen ging oder nicht berücksichtigt wurde, kann später im Projekt jedoch nur mit grösserem Aufwand oder gar nicht mehr integriert werden. Deshalb macht es sehr viel Sinn, gerade zu Beginn eines Projektes einen möglichst gesamtheitlichen Blick auf das Projekt zu erarbeiten (Blogbeitrag zu diesem Thema). Dies kann bei typischen Ingenieurprojekten gut im Rahmen einer etwas ausgedehnten Startsitzung erfolgen, bei der die Perspektiven der Beteiligten ausgetauscht und ein gemeinsames Verständnis des Problems erarbeitet werden. Wenn wir in unserem Beispiel dann einmal mit Kletterausrüstung unterwegs sind, sind wir zum Beispiel nicht mehr ausgerüstet für eine lange Waldwanderung mit Höhlenbesuch.

Beim Design Thinking wird von Beginn weg sehr auf den Nutzer und seine Bedürfnisse fokussiert. Dazu muss man sich neugierig und empathisch auf das Gegenüber einlassen und die Erkenntnisse auch gleich festhalten. Dabei hilft es, der Aufgabe als Anfänger und nicht als Experte zu begegnen. Während des Prozesses ist es dann auch eine Herausforderung, immer wieder seine eigenen Annahmen und Bedürfnisse zu hinterfragen und zurückzustellen und auf den Kunden zu fokussieren. Da hilft es, wenn diese Informationen gut dokumentiert sind. In verschiedenen Ingenieurdisziplinen habe ich erlebt, dass die Ingenieure sehr auf die aus eigener (technischer) Sicht optimale Lösung fokussieren. Rein technisch mag es die bestmögliche, vielseitigste, anpassbarste, günstigste oder schnellste Lösung sein. Aber unter Umständen ist es nicht die beste Lösung für den Kunden, wenn er sie zum Beispiel nicht richtig versteht oder bedienen kann. Hier hilft das Fachwissen des Experten nicht immer. Aber in diesem Bereich findet definitiv ein Umdenken statt und der Fokus auf den Nutzer wird immer wichtiger. Bei der Bergtour ist es ebenfalls wichtig, dass man unterwegs das Befinden der Tourengruppe prüft. Vielleicht bleibt der Tag in besserer Erinnerung, wenn man die Tour nicht bis zum Gipfel fortführt, sondern früher umkehrt und noch Zeit für ein Bad im Bergsee einplant.

Was können Ingenieure vom Design Thinking lernen – und umgekehrt?

  • Zu Beginn des Projektes die Systemgrenzen eher weiter fassen und das Problem ganzheitlicher betrachten, um neue Lösungen zu ermöglichen. Diese können auch schnell wieder verworfen werden. Aber später ist eine neue Lösung nur mit grossem Aufwand zu berücksichtigen.
  • Zu Beginn das Problem aus verschiedenen Perspektiven betrachten und Einflussfaktoren untersuchen. Diese sollen festgehalten werden und sind später im Projekt eine wertvolle Entscheidungshilfe.
  • Regelmässiger Fokus auf den Nutzer. Zu Beginn zuhören und die Welt aus den Schuhen des Nutzers oder des Kunden sehen (als Anfänger und nicht als Experte). Später die Lösung möglichst früh mit dem Nutzer prüfen, damit sie wirklich das Problem des Kunden löst und nicht einfach die technisch beste oder eine der möglichen Lösungen umsetzen.
  • Problem vereinfachen und zerlegen – was kann getrennt voneinander behandelt werden und was kann ganz weggelassen werden? Wann müssen wir wieder stoppen, um eine Entscheidung zu treffen oder die Teile zusammensetzen?

Für mich ergänzen sich die verschiedenen Arbeitsweisen sehr gut und jede Disziplin hat grosse Vorteile aber auch blinde Flecken. Es ergibt sich eine Symbiose, wenn Design Thinking im Ingenieurwesen angewendet wird oder wenn Ingenieurtechniken im Design Thinking verwendet werden. Auch die strukturierte Herangehensweise der Wissenschaft und das Aufstellen und Testen von Hypothesen sind immer wieder sehr hilfreich. Da es sich um verschiedene Denk- und Arbeitsweisen handelt, ist es hilfreich, die verschiedenen Funktionen auf verschiedene Personen zu verteilen. Häufig reicht es aus, für besondere Schritte zu Beginn und während eines Projektes mit einer externen Person zu arbeiten. Dann kann eine Person den nötigen Überblick behalten und den Prozess unterstützen, damit die Fachpersonen sich auf den Inhalt und die Entscheidungen konzentrieren können. So kann die Symbiose bestmöglich genutzt werden und beide Arbeitsweisen können ihre Vorteile und Besonderheiten einbringen.


Über den Autor

Claudio Lehmann ist Gründer und Berater bei evores. Als Ingenieur und Unternehmensberater setzt er sich voll dafür ein, das vorhandene Potential in den Firmen sichtbar zu machen und zu nutzen. Langfristige Nachhaltigkeit beginnt bei motivierten Mitarbeitenden und geht über effiziente Zusammenarbeit bis zur innovativen Strategie von Unternehmen, welche in der Gesellschaft einen Wert bringen. People. Planet. Profit.

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